Tempietto

Pavillon Gerhard Marcks Haus Bremen

Der Ort und der Standpunkt, von dem man ihn sieht

  Arie Hartog

Ein Grenzpunkt markiert rechtliche Ansprüche. Mit ihm greift eine menschengemachte Ordnung in die Landschaft. Auf den ersten Blick ist er einer von vielen Eingriffen in die Natur, welche die Geschichte der Menschheit begleiten, aber seine Qualität ist grundsätzlich eine andere. Menschen haben ihr eigenes Territorium schon vor vielen tausenden Jahren mit Steinen markiert und sicher auch in Plänen eingetragen, aber der entscheidende Schritt war die Verbindung dieser Markierung mit einer abstrakten Rechtsordnung und einer gesellschaftlichen Hierarchie in der griechischen Antike. Heute trifft an einem Grenzpunkt die Realität auf die im Kataster festgelegten Ordnung. So betrachtet besitzt er neben der imaginären horizontalen Linie bis hin zum nächsten Stein eine vertikale zu einem anderen Ordnungssystem, das von Menschen jedenfalls höher eingeordnet wird. Wenn Grenzpunkte verschwinden, sind die Grenzen oft noch da, da sie in dieser imaginären Ordnung festgelegt wurden.

Grenzpunkte werden durch Grenzsteine markiert und damit erhält die imaginäre Ordnung der Welt handfeste Zeichen, die in Deutschland etwa 15 Kilogramm wiegen. An einem seiner kurzen Enden wird der Punkt markiert, sodass er, wenn der Stein eingegraben wird, an der Bodenoberfläche sichtbar bleibt. Die einfache bildhauerische Frage nach Dimension und Richtung erhält bei einem Grenzstein also drei Bedeutungsebenen: Erstens besitzt der Stein eine bestimmte Ausdehnung und über die darauf angebrachte Markierung eine Richtung. Zweitens bezieht er sich immer auf andere Grenzsteine in seiner Umgebung und bildet damit unsichtbare Linien und ein räumliches Geflecht. Drittens verweist er auf eine Ordnung, die wortwörtlich über der realen Situation schwebt.

Stephanie Baden hat diese Steine als künstlerisches Material entdeckt und nutzt alle drei Bedeutungsebenen. Sie interessiert sich dafür, wie Orte und Wege durch markante Punkte entstehen. Sobald sie benannt oder erkannt werden, gliedert sich der Raum und genauso gilt umgekehrt, dass eine Situation unförmig und indifferent wird, wenn niemand sie bemerkt. Wenn jemand eine Linie zwischen zwei Objekten wahrnimmt, ist sie da. Daneben besitzt der Grenzstein über seine Form, Geschichte und Bedeutung eigene ästhetische und inhaltliche Qualitäten und Möglichkeiten, welche die Künstlerin zum Ausgangspunkt für zwei Installationen im Gerhard-Marcks-Haus nahm. Auf dem Hof des Museums (Abb. S. 18/19) markierte sie mit vier großen Grenzsteinen ein Quadrat. Kleinere Steine wurden innerhalb und einige außerhalb dieses Vierecks platziert. Auch wenn nicht alle im abgesteckten Feld standen, war die Ordnung sofort sichtbar und es stellte sich die Frage, ob hier neben dem dominanten quadratischen System andere Verbindungen vorlagen. Für die Betrachter entwickelten sich Linien und Felder im Raum. Durch Format, Farbe oder Positionierung der einzelnen Steine entstanden Bezüge. Die Steine in dieser Installation trugen Spuren von dem früheren Gebrauch mit sich und verwiesen so auf frühere Ordnungen in einer Landschaft.

Die Installation im Pavillon (Abb. S. 6/7) dagegen benutzte neue Grenzsteine aus Granit, die in Zukunft an irgendeinem Ort gesetzliche Absprachen markieren können. Sie lagen eng gestapelt zusammen. Den Grundriss bildete eine Mandorla, eine Mandelform, die entsteht, wenn zwei Kreise sich überlappen. Diese (imaginären) Zirkel bezogen sich auf die Maße des Raums, aber die tiefere Ordnung blieb für die Besucher unsichtbar, ähnlich wie mathematische Systeme in der Renaissance-Architektur harmonische Zusammenhänge schaffen, ohne selbst in den Vordergrund zu treten. Die Richtung der Komposition zur Mitte des Raums hin, die durch die Anordnung der Steine entstand, war dagegen sofort deutlich, wie auch die physische Wucht, die durch eine geordnete Ansammlung von Granitsteinen entsteht. Manche Besucher wurden dabei an das »Eismeer«, andere an »1000 Eichen« erinnert. Weitere­­ Assoziationen entstanden durch die Einkerbung von zwei Strichen auf dem Stein um den Schnittpunkt zu schaffen, womit aus simplen Gründen der Effizienz ein markantes Symbol hinzukam (ein Archäologe der Zukunft, der Flurstücke erforscht, wird vermuten, dass in Deutschland im 21. Jahrhundert das orthodoxe Christentum einen Höhepunkt erlebte).

Im Hintergrund von Badens Kunst steht eine konzeptuelle Fragestellung, danach wie Orte markiert werden (letztendlich Bedeutung bekommen). In der Auseinandersetzung mit einem spezifischen Ort entsteht daraus ein Arbeiten mit Formen, Zusammenhängen, Linien und Richtungen. Mit der Bildidee der Grenzsteine hat sie für sich ein Verweissystem gefunden, dass neben dem hier und jetzt, das jeder Installation innewohnt, auch Geschichte und Zukunft der genutzten Objekte miteinbezieht. Die Besonderheit der Steine, sowohl Gebrauchsgegenstände im wirtschaftlichen Kreislauf als auch archaisch aussehende Granitobjekte zu sein, verstärkt diese Potenz. Der ursprüngliche konzeptuelle Ausgangspunkt ist für Betrachter nicht immer nachvollziehbar, wohl aber die Ordnung der Bilder. Das Konzept ist der Anfang, nie das Ziel. Deutlich wurde das in einer Sammlung von Zeichnungen, in der sich Baden auf die direkte Umgebung des Gerhard-Marcks-Hauses bezog (Abb. S. 10, 12/13). Das Museum liegt in den Wallanlagen, dem zu einem Park umfunktionierten Befestigungswall um den Stadtkern herum und dort spürte die Künstlerin »Wunschwegen« nach. Während die Grenzsteine einen Punkt suggerieren an dem sich Realität und Karte treffen, ist die tatsächliche Landschaft voll von Spuren ihrer Besucher, die den Park anders nutzen als es Planer und Gesetzgeber vorgeben. Auch durch ihre Wege entstehen Orte. Damit schiebt sich eine gewisse Anarchie in die Wahrnehmung der geplanten Parkanlage. Neben den geschwungenen breiten Pfaden gibt es Abkürzungen und geheime Pfade, ein System, das auf Karten keinen Platz hat und doch – sobald es von Usern oder Betrachter wahrgenommen wird – zu einem Ort wird. Neben Form, Linie und Gesetz markiert also Verhalten Orte.

Eine dritte Werkgruppe neben den Grenzsteinen und Zeichnungen betraf Fotos, welche die Künstlerin von der Umgebung des Gerhard-Marcks-Hauses gemacht hatte (Abb. S. 15). Nicht direkt in Situ, sondern vom Bildschirm, zurückgreifend auf die Möglichkeiten des World Wide Web, sich fast jeden Platz auf unserer Erde ansehen zu können, ohne ihn besuchen zu müssen. Während die Zeichnungen Nähe und Feldforschung zeigen, gab es bei den Fotos eine deutliche Distanz (keine »Wunschwege« sind zu sehen). Verstärkt wurde der Abstand dadurch, dass es sich offensichtlich nicht um Screenshots handelte, sondern um ein Abfotografieren eines Bildschirms (Ortskundige, die Elemente aus der Landschaft erkannten, verstanden das sehr schnell, weil sich die Winkel der verschiedenen Aufnahmen deutlich unterschieden, während sich bei Google-Earth die Richtung der Darstellung nie ändert).

Die Werkgruppen von Stephanie Baden werden durch ein Nachdenken über Ort, Nähe, Distanz und Verbindung definiert. Daraus schafft sie Zeichensprachen und Formen. Die nachvollziehbare innere Komplexität und die jeweils einprägsame Bildform, die sie von Fall zu Fall entwickelt, bilden zusammen etwas, das man als ihren Stil bezeichnen kann, auch wenn ein unmittelbar erkennbares visuelles Markenzeichen fehlt. Stärker sogar, weil eine offensichtliche Handschrift abwesend ist und ein Betrachter Steine, expressive Zeichnungen und Bildschirmfotografie verbinden darf, bekommt er Einblicke in die konzeptuellen Hintergründe ihrer Arbeit.

Arie Hartog

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