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Die lichte Rückseite der Farbe

  Anne Simone Krüger

Zerbrechlich schön schweben vier halbtransparente, blaue Flächen etwa kniehoch mitten im Raum. Federleicht sehen sie aus und verschleiern in ihrer Zartheit die enormen Kräfte, die hier wirken und die je 132 mal 236 Zentimeter großen Glaspapiere über mehr als neun Meter gespannt halten. In sanftem Blau schimmern die hauchdünnen Rechtecke, je nach Lichteinfall etwas heller oder dunkler. Auf der Oberfläche spiegeln sich als reflektierende, weiße Lichtflächen die Glasscheiben der fünf nahezu bodentiefen Fenster an der Stirnseite des Raumes. Und dann sind da vier weitere blaue Flächen, vom Licht auf den Boden gemalt. Mal präsenter und mal nur schemenhaft, je nachdem, wie die Sonnenstrahlen einfallen. Sie stellen eine physisch immaterielle, für das Auge jedoch durchaus konkrete Erweiterung der Glaspapiere in den Raum hinein dar. Vor allem aber sind sie wesentlicher Teil dieses Werkes mit dem Titel farawa, das die Hamburger Künstlerin Stephanie Baden im Jahr 2008 in der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg präsentierte.

Wie entsteht Raum in der menschlichen Wahrnehmung? Wie weit verschränken sich Raum und Licht? Und wie bedingen Farbe und Raum sich gegenseitig? In Stephanie Badens Schaffen verschwimmen die Grenzen zwischen Raum und Objekt, es entstehen Zwischenräume. Basis dieser Zwischenräume ist das Material selbst. Denn die Farbe zeigt sich hier in ihrem materiellen Eigenwert als hauchdünne Membran. Sie ist nicht mehr im eigentlichen Sinne Malerei, sondern ein Objekt im Raum. Die Farbpigmente bilden sich demnach selbst ab, sind Material und Werk zugleich. Eingefasst zwischen zwei durchsichtigen Glaspapieren liegen sie in einem Dazwischen, verharren wie eingefroren in einem seltsam unkonkreten Aggregatzustand. Was sonst flüssig oder cremig auf die Leinwand aufgetragen wird, ist hier fest und scheint doch durch die filigranen dunkleren Strukturen, die das Farbfeld wie Adern durchziehen, in Bewegung zu sein. Verstärkt wird der Eindruck durch die Lichtreflexe, die auf der leicht spiegelnden Oberfläche tanzen, wie kleine Lichter auf einem von Wellen gekräuselten See. Die Oberfläche zeichnet sich ihrerseits durch eine Zwischenstofflichkeit aus. Denn das Glaspapier ist ein Naturderivat aus Baumwolle, das seine Transparenz durch einen chemischen Transformationsprozess erhält. So ist dem Material, verborgen für den Betrachter, die Verbindung zu Malgründen wie Leinwand oder Nessel noch eingeschrieben. Allerdings ist die Baumwolle soweit verändert, dass die artifizielle Erscheinung überwiegt. Das Naturderivat zeichnet sich durch einen Zwischenzustand aus, der weder das eine noch das andere ist: wie Plastik mutet es an und ist doch dem Wesen nach Natur. Vor allem aber ist es ein nahezu unsichtbarer Träger, der die Farbe fixiert, ihr eine Ausdehnung im Raum gibt und sie für das Licht leicht erreichbar macht.

So findet Stephanie Baden mit ihren Arbeiten eine gestalterische Lösung für ein traditionsreiches Thema, das neuerdings eine überraschende Verjüngung erfährt. Ausgangspunkt ist die seit dem Mittelalter evidente Frage, wie denn eigentlich das Licht ins Bild kommt. Generationen von Malern haben variantenreiche Antworten gefunden, Höhepunkte der Suche finden sich nicht zuletzt im legendären Chiaroscuro eines Caravaggio oder Rembrandt, die neue Maßstäbe in Sachen Hell-Dunkel-Gestaltung setzten. Seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts jedoch hat sich das Interesse einschneidend verändert. Künstler von Mark Rothko bis hin zu Dan Flavin haben mit ihren Werken den Diskurs um das Licht aus dem Bild heraus in den Raum hinein verlagert. Frage und Gegenfrage dieser Diskursverschiebung bringt der Kunsthistoriker Markus Brüderlin im Kontext einer Ausstellung mit dem so schlichten wie vielsagenden Titel Farbe zu Licht auf den Punkt: „Wie kommt nun aber das Licht aus dem Bild in den Raum, und welche Rolle spielt dabei die Farbe? Oder wir können auch umgekehrt fragen: Wie kommt die Farbe aus dem Bild in den Raum, und welche Rolle spielt dabei das Licht?“[1] Die monochrome Farbfeldmalerei von Mark Rothko, Barnett Newman und Yves Klein, die noch gänzlich an das Tafelbild gebunden ist, bildet die Basis der Überlegungen. Der Wandel setzt mit den leuchtend roten Tafeln Rupprecht Geigers ein, Maurizio Nannuccis monumentale Schriftleuchten vollziehen schließlich den Sprung: hier werden die Wände mit monochromem Neonlicht „bestrichen“. Das „gemalte, im Bild gefangene Licht wird durch das reine Licht, das ausstrahlt, ersetzt und das Tafelbild zu einer ‚Lichtmalerei im Raum’ erweitert.“[2]

Stephanie Badens künstlerisches Schaffen setzt an genau dieser Gelenkstelle an und findet eine individuelle Form des Arbeitens mit Licht. Ihre Werke sind nicht selbstleuchtend und bestehen doch zu einem großen Teil aus Licht. Sie sind kein Tafelbild mehr, auch wenn die Ausgangsfläche an eine Bildtafel erinnert. Stattdessen sind sie Farbkörper im Raum, die den Umraum durch das Paradox farbiger Schatten ebenfalls zum Werk werden lassen. Deutlich wird dies auch bei den Wandarbeiten der Künstlerin. Arbeiten wie Deep Blue werden stets etwa zwanzig bis dreißig Zentimeter vor der Wand angebracht. Durch das einfallende Licht werfen sie einen farbigen „Schatten“ an die Wand, lassen also einen Farbraum entstehen, der die Materie des Kunstwerkes um einen weiteren immateriellen Raum ergänzt. Die Grenzen zum Umraum vergehen in Arbeiten wie dieser auch in weiterer Hinsicht: denn während in älteren Werken wie farawa aus dem Jahr 2008 das Farbfeld noch durch einen werkimmanenten dunkleren Rahmen begrenzt ist, hat sich dieser hier aufgelöst, wodurch die Grenzen zwischen Objekt und Raum zunehmend verschwimmen. Das durchscheinende Blau wird endlos.

„Für mich“, so weiß auch der französische Kunstkritiker Pierre Restany zu sagen, „ist Blau in erster Linie ein einzigartiger Katalysator von Sensibilität, das sichtbare Zeichen des Unendlichen in seiner inneren Unermesslichkeit.“[3] Die Farbe, die eigentlich nichts als sich selbst sowie das Licht abbildet, erhält – betrachtet man sie im kulturellen Kontext – also durchaus eine Metaebene. Sie verweist über sich hinaus auf kulturell geprägte Vorstellungen. Dass diese dabei durchaus auch aufgebrochen werden können, zeigt sich anhand der Arbeiten Black Square I–IV. Wider Erwarten ist das Schwarz hier nicht im eigentlichen Sinne dunkel, gängige Vorstellungen, die die Farbe mit Schlagwörtern wie Nacht, Trauer, Bedrückung in Verbindung bringen würden, greifen nur bedingt. Denn dieses Schwarz ist lichtdurchbrochen. Horizontal verlaufende Streifen oder über die Bildfläche verteilte Kreise schreiben ihm ein kompositionelles Gefüge ein, das sich über die Grundstruktur legt. Diese Grundstruktur ist allen Arbeiten zu eigen, sie ergibt sich aus dem Materialprozess heraus und zeichnet sich als besagte filigrane ader-artige Gebilde ab, die von der Künstlerin nur bedingt kontrolliert werden können und wollen. Nicht nur ist die Farbe damit als Material eigenwertig, sie ist bis zu einem gewissen Punkt doppelt frei, da sie sich im Rahmen eines kontrollierten Zufalls selbst ihren Verlauf suchen darf. Mal drängt die Farbe so zu einem sehr gleichmäßigen flächendeckenden Gewebe feiner dunklerer Verästelungen, mal sind es nur partielle Linien. In Werken wie Blue with Blue Circles gestaltet die Künstlerin den Farbraum zusätzlich mit bewusst gesetzten Formen wie Kreisen oder Ellipsen. Und bringt so das Thema der Relationen ins Spiel.

Denn die Relationen von Objekten zueinander prägen unser Raumverständnis maßgeblich. „Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten“, diagnostiziert Michel Foucault bereits 1967.[4] Und bringt damit implizit Außerordentliches zum Ausdruck: dass sich nämlich das menschliche Raumverständnis kulturell bedingt verändert. So ist für einen Menschen im Mittelalter Raum linear aufgebaut – er erstreckt sich nicht in die Weite, sondern in die Höhe. Geprägt durch die christliche Theologie und die Vorstellung von der Hölle unter unseren Füßen, darüber der irdischen Lebenswelt und zuoberst der göttlichen Sphäre, findet diese Vorstellung in den gotischen Kathedralbauten entsprechenden Ausdruck. Die hohen Gewölbe dieser Bauten bedienen sich ebenfalls der Farbe und des Lichts, um einen immateriellen Raum zu schaffen: Sonnenlicht, das durch die bunten Glasfenster fällt, wirft farbige, schräg einfallende Lichträume in die Kathedralen, die sich auf dem steinernen Boden als bunte Lichtfelder sammeln. Dieser immaterielle Raum ist einerseits visuell wahrnehmbar und doch gleichzeitig transzendental aufgeladen. Was macht ein solcher Raum mit dem Menschen? Und was geschieht, wenn sich diese Vorstellung grundlegend ändert? Nicht zuletzt durch die Durchsetzung der zentralperspektivischen Raumdarstellung in der Renaissance, die Brunelleschi, Alberti und da Vinci zur Konstruktion eines dreidimensionalen Illusionsraums auf einem zweidimensionalen Bildträger ausarbeiteten, wurde unser Raumdenken maßgeblich verändert.[5]  Wir haben gelernt, den Raum zu sehen. Und stehen nun an einem Punkt, an dem die Kunst diese Konstruktion radikal hinterfragt, indem sie den Raum vom ebendiesem Bildträger in den Realraum hinein erweitert. Haben wir insofern aktuell ein „Raumproblem“?

Blickt man in Richtung Wissenschaft, scheint dieses Raumproblem nicht nur in der Kunst durchaus virulent zu sein. Beginnend mit Foucault zeichnet sich eine Wende ab, die 1990 in der Ausrufung des „spatial turn“, also der „Wende zum Raum“ gipfelte. Raum, so die These, ist zunehmend durch einen abstrakten Raumbegriff gekennzeichnet. Dieser geht „auch mit der Neugewichtung sprachlicher Bedeutungshorizonte einher […].“ Verständlich wird dies an der Wortgeschichte. Blickt man auf die romanischen Sprachen, wo Raum noch heute im Französischen „espace“ und im Englischen „space“ ist, dann wird die lateinische Wurzel des „spatium“ deutlich. Spatium ist sowohl eine offene Laufbahn als auch ein bestimmter Zeitraum, das deutsche Wort „spazieren“ vereint nach wie vor beide Konnotationen. „Gegenüber der Zwischen-Räumlichkeit des spatium wird der in allen germanischen Sprachen existierende Raum beispielsweise im Grimm’schen Wörterbuch wesentlich territorial, d. h. als eine ‚gegebene stätte für ausbreitung und ausdehnung’ verstanden […].“ Hier werden also zwei unterschiedliche raumtheoretische Positionen deutlich: Raum einerseits im Sinne einer territorialen Bindung und andererseits als Ausgangspunkt einer physischen relationalen Verortung.

Mit dem Begriff der Verortung befinden wir uns wieder mitten im Werk von Stephanie Baden. Wie kommt das Licht aus dem Bild in den Raum, welche Rolle spielt die Farbe dabei, und in welcher Relation steht der Betrachter zu diesem Farbraum? Er befindet sich mittendrin. Die Glaspapiere öffnen ihm den Raum des Kunstwerkes, in welchen er eintreten kann. Vom passiven Betrachter werden wir zu einem, der dazu aufgefordert ist, einzutauchen, um die Arbeiten herumzugehen, sich die Rückseite der Farbe vorzustellen oder gar hinter oder unter die Arbeiten zu spähen. Und sich dabei immer wieder zu fragen: was macht der Raum mit dem Menschen? Oder andersherum: was macht der Mensch mit dem Raum?

Anne Simone Krüger

[1] Markus Brüderlin: Vom gemalten Licht zum Malen mit Licht. Von Rothko zu Flavin. In: Ausst. Kat. Farbe > Licht. Katalog anlässlich der gleichnamigen Ausstellung in der Fondation Beyeler vom 16. April bis 30. Juli 2000, Ostfildern-Ruit 2000, S. 109–117, S. 109.

[2] Ebd.

[3] Pierre Restany: Blau oder die innere Unermesslichkeit. Zitiert nach: Ausst. Kat. Blau: Farbe der Ferne. Hrsg. von Hans Gercke. Katalog anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Kunstverein Heidelberg vom 2. März bis 13. Mai 1990, Heidelberg 1990, S. 15-16, S. 15.

[4] Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: Raumtheorie. Hrsg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel, S. 317–327, S. 317.

[5] Vgl. ebd. S. 23.